Wenn vor Anstrengung alles verschwimmt
Zwei Tage und Nächte in Tansania
05 August 2023
Words by:Lachlan Morton
2023 photography by:Dominique Powers
2022 photography by:Finley Newmark
Zu groß war die Verlockung eines Neuanfangs in Tansania.
Nach einem wilden Jahr hatte ich beschlossen, mich für 2023 in die USA zurückzuziehen und meinen Fokus auf die dortigen Rennen zu legen. Ich wollte damit die Sache etwas entschleunigen. Aber die Zeit im Leerlauf war schnell vorüber, und schon bald hatte ich das Gefühl, beschäftigter zu sein als je zuvor.
Ich erinnerte mich an meine Zeit in Ostafrika im letzten Jahr zurück und wie sehr ich dort in mir ruhte. So kam es, dass ich meinen Reisepass hervorkramte, einen Flug buchte und die Packliste noch einmal durchging. Der Gedanke an einen kompletten Neustart, irgendwo in der Nacht, irgendwo in Tansania, irgendwo in meinem Kopf – das war jetzt das Einzige, was zählte.
Packen und Aufladen, Umpacken, Aufpumpen und Ölen, wieder Umpacken und Zweifeln – nach all dem schlief ich wie ein Baby. Und ich freute mich auf die Ruhe und das Alleinsein.
Das Evolution Gravel Race ist ein Abenteuer über 860 km vom Ngorongoro-Krater bis zur Swahili-Küste. Eine Kette kleiner Dörfer verbindet Sandwüste, tropisches Hochplateau, Wellblechpisten, schlammige Motorradwege und sanften Singletrails, heftige Anstiege und frustrierende Feldwege. Während tagsüber ein reges Treiben herrscht, schlummern diese Orte, sobald die Sonne untergeht.
Das Rennen ist zweigeteilt. Die erste Teilstrecke ist 460 km lang und sieht eine obligatorische zwölfstündige Pause in einem vom Veranstalter eingerichteten Camp vor. Darauf folgt eine 400 km lange Strecke nach Pangani, das am Indischen Ozean liegt. Durch dieses Format können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Ultralangstreckenrennen ohne den sonst bei Wettkämpfen üblichen Schlafentzug erleben. Das Evolution war also genau das Rennen, nach dem ich mich gesehnt hatte.
Da das Evolution nur vier Tage nach dem Migration Gravel Race in Kenia stattfand, musste ich eine lange Busfahrt und einen Grenzübertritt hinter mich bringen. Als ich in Tansania ankam, lernte ich all die anderen Verrückten kennen, die an diesem Rennen teilnahmen. Von nervösen Neulingen, neugierigen Hobbysportlern, erfahrenen Rennfahrern, ehrgeizigen jungen Talenten aus Ostafrika, die sich einen Namen machen möchten, und vielen weiteren Fahrertypen war alles vertreten. Um hier an den Start zu gehen, brauchte es Mut und Entschlossenheit. Und um das Ziel zu erreichen, bedurfte es noch viel mehr.
Als der Startschuss für das Rennen fiel, wusste ich, dass die anderen Fahrerinnen und Fahrer ihre Leistung an mir messen würden. Das wollte ich aber nicht, und so fuhr ich im ersten anspruchsvollen Abschnitt nach 60 Kilometern davon. Sandige Singletrails schlängeln sich durch ein Dickicht aus stacheligem Unterholz. In dieser Gegend gibt es zwar wilde Tiere, doch man ist so mit dem Lenken beschäftigt, dass man sich nicht mehr als fünf Meter über sein Vorderrad hinaus Gedanken machen kann.
Im Laufe des Tages wird es heißer und heißer, und der spaßige Sandabschnitt weicht vierzig brutalen Kilometern aus Wellblechpisten und Gegenwind. Ab und zu kann man die Spuren der Bodabodas-Motorräder am Wegesrand nutzen, aber das macht das Fahren nicht viel angenehmer. Ein Abstecher durch ein kleines Dorf bietet eine willkommene Abwechslung, bevor die Strecke in hügeliges Gelände führt. Im ersten Moment mag sich das fantastisch anhören, aber man sollte vorsichtig damit sein, was man sich wünscht.
Ich nutze die Gelegenheit und halte an einem kleinen Laden. Das junge Mädchen darin gibt seiner Mutter ein Zeichen, als es mich sieht. Ich kaufe 4 Liter Wasser und einen Liter Cola. 3000 Schilling. Sie lachen sich kaputt, als sie sehen, wie ich auf der Stelle die Hälfte davon trinke. Die Neugier war groß genug, um mir eine Frage zu stellen, aber man sah mir wohl an, wie durstig ich war. Als ich ihnen erklärte, wo ich hinwollte, erntete ich dafür nur Kopfschütteln und Lachen.
Zurück auf der Straße wird die Strecke zu einem Mischmasch aus kleinen Singletrails und breiteren Feldwegen. Es heißt, man könne den Gipfel des Kilimandscharo von diesen Maisfeldern aus sehen. Aber mein Blick war auf die viel näheren Berge gerichtet.
Immer mehr Menschen sind zu Fuß auf der Strecke unterwegs, was darauf hindeutet, dass der Arbeitstag vorbei ist. Schon bald wird das Land in Dunkelheit gehüllt sein. Ich mache mich bereit: Licht an, Armlinge an, Playlist wechseln.
Das erste Eintauchen in die Nacht ist immer mit einem kurzen Angstschauer verbunden. Und so dauert es ein paar Minuten, bis ich mich wieder gefangen habe. Alles läuft gut und die Gewissheit, dass wir noch vor Tagesanbruch in unserem Lager sein werden, motiviert mich. Den ersten großen Anstieg bewältige ich ohne zu schieben – gerade so. Für einige dürfte er aber zu einer bösen Überraschung während ihrer Nachtschicht werden. In der Nähe des Gipfels gibt es eine kleine Störung in der GPX-Datei, also rufe ich Organisator Mikel an, um ihm Bescheid zu geben und das weitere Vorgehen zu besprechen.
Irgendwann erkläre ich mich bereit, den Berg weiter hinaufzufahren, was etwa 7 km mehr bedeutet, während sie jemanden schicken, um eine andere Route auszuarbeiten. Es ist verrückt, wie einen solche Kleinigkeiten aus dem Konzept bringen – ich lasse es zu, aber nur fünf Minuten lang. In diesen Momenten wird mir bewusst, wie nahe ich an meinem mentalen Limit lebe und wie viel Spaß es mir macht, dort zu sein.
Eine technische Abfahrt führt mich zurück ins Tal, sodass es nur noch 80 km bis zum Camp sind. Aber nach 17 Stunden Fahrt hat sich mein Wahoo verabschiedet. Kein Drama. Ich habe Ersatz dabei. Dieser Abschnitt durch die Wüste dauert eine Ewigkeit. Wie tief die verschiedenen sandigen Abschnitte sind, lässt sich nur schwer abschätzen – und dann wartet auch noch ein gewaltiger Anstieg auf uns.
In diesem Moment fällt mir wieder ein, dass allein im tansanischen Busch bin, mitten in der Nacht. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Doch ein ungeheures Geraschel im Gebüsch zu meiner Rechten unterbricht diesen Augenblick. Ist das etwa ein Wirbelsturm im Gebüsch? Verliere ich langsam den Verstand? Es ist noch nicht mal Mitternacht.
Ohne langsamer zu werden, richte ich meinen Blick wieder nach vorne auf die Strecke. Die untere Hälfte eines Elefanten taucht auf und läuft quer über meinen Weg. Ich mache eine Vollbremsung, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Als ich sehe, wie er mit aufgestellten Ohren zurückkommt, weiß ich, dass ich schleunigst verschwinden muss.
Schlagartig wird mir bewusst, dass sich mehr als zehn Elefanten in meiner unmittelbaren Umgebung befinden. Mit eingezogenem Kopf fahre ich über mein Limit hinaus, angetrieben von purem Adrenalin. Ein magisches Erlebnis, das zugleich viel Demut hinterlässt.
Nachdem ich den Wüstenabschnitt hinter mir gelassen habe, steht der lange Anstieg zum Camp an. Die ersten 8 km verlaufen schnurgerade, aber der tiefe Schotter und die Wellblechpisten kosten ordentlich Körner. Ich erspähe Lager in den Kanalisationsrohren, die unter der Straße verlaufen, schemenhafte Gestalten, die von schummrigen Feuern beleuchtet werden. Nach einer kurzen Abfahrt gelangt man zu einer Reihe von Serpentinen, die direkt in die Böschung hineinragen. Davon weiß ich nur aus meinen Erinnerungen aus dem Jahr zuvor. Also schalte ich in den kleinsten Gang und gebe mein Bestes, um mit einer akzeptablen Trittfrequenz voranzukommen.
Der Weg nach oben ist so steil, dass es schwerfällt, mein zukünftiges Gipfel-Ich nicht zu beneiden, wenn es fast 2000 Höhenmeter geschafft hat. Die letzten Minuten meiner ersten Etappe versuche ich so gut es geht zu genießen. Ich weiß, dass es viele Fahrerinnen und Fahrer da draußen gibt, die weit mehr zu kämpfen haben als ich – und diese Erkenntnis ist auf merkwürdige Weise beruhigend.
Als ich das Lager erreiche, berichte ich dem Rennleiter von der Sache mit den Elefanten. Hier herrscht reges Treiben, die Buschküche läuft auf Hochtouren und das Wasser zum Duschen kocht bereits. Ich suche mir das nächstgelegene Zelt aus und mache mich erst mal frisch. Ein Eimer voll heißem Wasser hinter einer Plane hat sich noch nie so gut angefühlt. Und so schrubbe ich die Spuren des Tages von mir ab und versinke in der Erfahrung eines besonderen Tages auf dem Rad.
Nachdem ich mich umgezogen habe, gönne ich mir eine Portion Ugali, Curry und gebratenes Fleisch. Es herrscht eine tiefe Ruhe, die weit entfernt ist von der vorherigen Hektik. Nach einer Tasse Tee verkrieche ich mich um 3 Uhr morgens in mein Zelt. Nicht an morgen denken, nur an den letzten Tag. In meinem Schlafsack – gelähmt vor Müdigkeit – schlafe ich irgendwann ein. Ich glaube, ich war selten so glücklich.
Als ich endlich aufstehe, ist die Sonne schon längst aufgegangen. Ich sehe andere Mitstreiter in einer Mischung aus Müdigkeit und Zufriedenheit umherirren. Manche essen ganz langsam und starren dabei gedankenverloren ins Leere. Andere basteln an ihren Rädern herum und behelligen die Mechaniker. Sie alle können die unterschiedlichsten Geschichten über die vergangenen 24 Stunden erzählen. Ich trinke noch einen Kaffee und versuche mich mit so vielen Fahrern wie möglich zu unterhalten.
Alle sind sich einig, dass es eine sehr anstrengende Etappe war, aber jeder ist stolz darauf, es bis ins Camp geschafft zu haben. Wir hatten das Gefühl, dass wir das Schlimmste schon hinter uns lag und es nun nur noch hinunter in Richtung Küste ging. Das wollte ich zumindest glauben, aber ich wusste es besser.
Nach ein paar weiteren Mahlzeiten, dem Aufladen der Akkus und dem Wiedereinpacken der Ausrüstung war es an der Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Zwölf Stunden, um sich auszuruhen und neue Energie zu tanken, ohne sich selbst von der bevorstehenden Fahrt abzuhalten, waren genau richtig. Als ich mich auf den Weg gemacht habe, hatte ich noch den Lifetime Grand Prix – auch bekannt als Crusher in the Tushar – im Hinterkopf, der am folgenden Wochenende stattfinden sollte. Ein wirklich wichtiges Event. Ich wollte die heutige Strecke schnell zurücklegen, aber gleichzeitig nicht in ein riesiges Loch fallen. Aber die Route war anderer Meinung.
Einige Stunden nach der Überquerung und dem Abstieg über die Hochebene lande ich in einer der größeren Städte entlang der Strecke. Als ich das Stadtzentrum erreiche, überkommt mich plötzlich ein untrügliches Gefühl. Meine Eingeweide sind kurz davor, zu explodieren. Ich renne in eine Seitenstraße, entledige mich meines Trikots und reiße meine Trägerhose herunter, während ich mit dem Hintern voran ins Gebüsch springe. Das war ganz schön knapp – sozusagen ein Schuss vor den Bug. Nachdem ich mich wieder frisch gemacht habe, fahre ich aus der Stadt hinaus – 320 km schwieriges Terrain liegen vor mir – und hoffe, dass diese Erfahrung eine Ausnahme war.
Das sollte nicht der Fall sein. Fast auf die Minute genau wiederholt sich die Situation alle dreißig Minuten wieder – und so geht es die nächsten zehn Stunden lang weiter. Die Träger der Hose bleiben also unten. Zum Glück gibt es hier draußen nicht viele Städte. Nur die trockene, heiße Wüste. Die Nacht bricht an der härtesten Steigung des Rennens herein, bei der man nach 13 km bereits 1300 Höhenmeter auf dem Tacho hat. Ein echtes Monster.
Bis jetzt hatte ich mein Bestes gegeben, um die Erinnerungen an das letztjährige Rennen aus meinem Kopf zu verdrängen. Dieses Erlebnis ist fest mit meinen Erinnerungen an Sule verschmolzen, und ich war nicht bereit, mich ihnen hinzugeben. Doch jetzt, mitten in einem Abenteuer, das meine volle Konzentration erfordert, kann ich diese Erinnerungen nicht mehr zurückhalten. Ich durchlebe noch einmal das Rennen, das wir vor nur einem Jahr bestritten haben. Gemeinsam kämpften wir uns denselben Anstieg hinauf und querten dieselbe Hochebene. In der Dunkelheit durchlebe ich jeden Moment noch einmal so, als wäre er meine aktuelle Realität. Sein Tod hat sich noch nie so real angefühlt wie in diesem Augenblick.
Es fühlt sich furchtbar ungerecht an, dass er nicht mehr hier ist, um den Kampf noch einmal aufzunehmen. Aber ich schätze mich auch glücklich, ein letztes Mal seine Anwesenheit zu spüren. Vergangenes Jahr sind wir um die Wette in Richtung Meer gefahren. In diesem Jahr fahren wir wieder zusammen – diesmal in meinen Gedanken.
Ich vergesse meine Pläne, die Rennen, die vor mir liegen, und fange an, jenes Loch zu graben. Ich grabe, weil ich es will. Ich grabe, weil jeder, der dieses Rennen nach Sule gewinnt, so tief graben sollte, wie er es damals getan hat.
Bild oben: Sule Kangangi und Lachlan Morton beim Evolution Gravel Race 2022
In der Nacht verschwimmt alles vor Anstrengung. Ich bin auf mein innerstes Ich reduziert. Es ist sehr unangenehm, zu merken, wie sich der Tank leert, aber es hat auch etwas von einem Neuanfang. Nach dem geradezu lächerlich steilen Schlussanstieg in den Amani-Wald lasse ich meine Gedanken schweifen – hin zum Meer. Und ich weiß: Sobald die Sonne aufgeht, ist es nicht mehr weit. Das Risiko ist groß, die Gedanken so weit vorauseilen zu lassen, aber das ist mir in dem Moment egal.
Tief im Wald leuchtet meine Stirnlampe ein Augenpaar an. Die meisten Augen, die ich bisher gesehen habe, gehörten zu Affen, die hoch oben in den Bäumen sitzen. Aber dieses Paar ist viel niedriger und erscheint direkt neben dem zerfurchten und schlammigen Pfad, auf dem ich unterwegs bin. Als ich mich nähere, verschwindet es und wird durch die Gestalt einer großen Katze ersetzt, die vor mir über die Straße huscht. Ich bin nah genug dran, um ihre Tupfen zu erkennen. Das Tier verschwindet im Wald und taucht teilnahmslos in die Dunkelheit ein, als ob ich nicht da wäre; als ob es nie da gewesen wäre.
Die letzten 80 km sind dieses Jahr neu – und sie sind hart. Endlose kleine Singletracks und schlammige Motorrad-Trails lassen aus kleinen Hügeln große werden. Ich bin durstig, und die Gebetsrufe um 4 Uhr früh lassen mich jedes Dorf hoffnungsvoll nach einem Laden absuchen.
Endlich, um 6 Uhr morgens, entdecke ich einen. Eine kleine Gruppe neugieriger Einheimischer inspiziert mein Fahrrad, während ich ein paar Liter herunterkippe. Sie mustern mich und fragen sich, woher ich wohl kommen mag. Ich erkläre, dass ich in Richtung Meer unterwegs bin – was in diesem Moment nicht besonders beeindruckend klingt.
Ich quäle meine schmerzenden Beine durch die letzten Kilometer und weigere mich, aufzugeben. Bis zum Ende durchhalten, ist die Devise Also trete ich in die Pedale. Umdrehung für Umdrehung. Als ich ankomme, lasse ich kurz ein paar Tränen in Meer fließen. Das Wasser trägt mich – als wüsste es, dass es sonst nichts mehr gibt.
Ich erzähle meine Geschichten, die Höhen und die Tiefen. Nur diejenigen, die das gleiche wilde Abenteuer bis zum Meer durchgemacht haben, können wirklich verstehen, was in mir vorgeht. Und obwohl ich diese Reise größtenteils allein bestritten habe, empfinde ich es als eine Bereicherung, dass es zahlreiche weniger vorbereitete, unerfahrenere und schlechter ausgerüstete Mitstreiterinnen und Mitstreiter gab, die bereit waren, alles zu geben, um mit mir das Ziel zu erreichen.
Zuhause angekommen bin ich zwar körperlich erschöpft, aber es steckt wieder mehr Leben in mir. Zwei Tage und Nächte lang fühlte sich Tansania irgendwie mehr nach Heimat an als mein eigentliches Zuhause.