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Belgischer Kirchgang

Wir waren in Belgien und können versichern, dass es der Seele des Radrennsports blendend geht. Wir fanden sie auf der Kuppe eines Hügels, wo sie von einer Horde Biertrinker unter einem riesigen Kruzifix wieder auferweckt wurde, untermalt vom pumpenden Bass düsterer House-Musik, die vom eisigen Nordwind weggerissen und über die nassen, schlammigen Felder weiter nach unten geweht wurde.

03 March 2023

Die fragliche Kapelle befindet sich am Ende der Kapelmuur, einem steilen, gepflasterten Anstieg oberhalb von Geraardsbergen. Gerade findet dort eine Kirmes statt mit blinkenden, rasselnden Fahrgeschäften. Jedes Jahr wird die Kapelmuur für ein paar unbezahlbare Minuten zum Zentrum des belgischen Radsports – um nicht zu sagen zum Zentrum der Welt.

Früher im Jahr haben andere Radrennen stattgefunden, im Mittleren Osten und in Australien, und auch dort gibt es Fans. Doch hier in Belgien sind einfach alle Radsportfans. Das Land ist in drei Sprachgebiete unterteilt und manchmal gelingt es kaum, eine Regierung zu wählen. Doch wenn es um den Radsport geht, scheinen sich alle einig. Und so ist das Omloop Het Nieuwsblad, das erste der klassischen Eintagesrennen, zugleich die Eröffnungsfeier des Radsports und ein Wiedersehensfest.

In keinem anderen Land könnte ein Radrennen über einen Rummelplatz führen und vor einer Kapelle enden. Mit dem Omloop senkt sich eine seltsame, betörende Verrücktheit auf Belgien herab, die Anfang April ihren Höhepunkt bei der Flandern-Rundfahrt erreicht.

Rückblende: Es ist neun Uhr morgens in einer riesigen Industriehalle, die an die wirklich gruselig steile Radrennbahn von Gent angebaut ist. So ziemlich jeder hat schon jetzt ein Bierglas in der Hand. Unter dröhnender Techno-Musik werden die Teams vorgestellt, der Dunst der Nebelmaschinen wabert und in den farbigen Lichtern glänzen gebräunte Beine. Draußen macht sich der Stefan-Küng-Fanclub bereit – ein paar Typen in roten Anoraks, die sich zur Erkennungsmelodie ihres Helden einsingen.

Familien mit Kinderwagen treiben sich zwischen den Teambussen herum, Männer in Uniform blasen dienstbeflissen in ihre Trillerpfeifen und eine Polizistin schießt auf der Startlinie einen Selfie. Ein Trupp Motorradfahrer stärkt sich mit Teilchen und Kaffee für den bevorstehenden Arbeitstag. Alte Männer mit ernsten Gesichtern, alte Freunde und alte Bekannte, Kleinkinder mit Radmützen und Teenies, die ihre Stars anhimmeln – die Rituale des Jahres beginnen von Neuem.

Keiner erwähnt den Lärm und den Gestank. Anfeuerungsrufe und heisere Schreie, Bierpfützen und Gebäck, Autos im Leerlauf und die Wärmesalbe der Fahrerinnen hinterm Startbogen. „Sieben Schichten Wärmecrème und Olivenöl“, scherzt eine Australierin, die auf den Startschuss wartet. Das Feld der Männer ist bereits auf und davon, unter der niedrig stehenden Sonne eines dunklen Himmels, an dem die Helikopter ihre Runden kreisen. Um sie herum geben Fahrerinnen widerstrebend ihre warmen Jacken an die Betreuer ab.

Am Rand der Menge hockt ein Mann am Boden und lädt Platzpatronen in zwei Pistolen. Gespannte Stille, dann ein Knall und der Geruch von Kordit. „Viel Erfolg!“ ertönt es von überall. Zwei Fahrerinnen klatschen sich ab und klicken in die Pedale. Und dann sind sie weg.

Sofort beginnen Arbeiter damit, die Absperrungen abzubauen. Der Wanderzirkus zieht weiter.

Es folgt eine wilde Jagd vorbei an spitzgiebeligen Bungalows, säuberlich in Form geschnittenen Bäumchen, Gemüsegärten, Lagerhäusern und Feldern. Auf einer Karte sieht die Strecke aus wie eine Portion frischer Spaghetti. Ein schwindelerregendes Kreiseln um geheiligte Hügel, das so absurd und verwirrend wie wunderschön ist.

Kurze Momente, die sich in der Landschaft aneinanderreihen. Eine Straßensperre der Polizei stoppt den Verkehr, und vor einem verfallenen Gebäude hat sich in gespannter Erwartung eine kleine Menschenmenge versammelt. Noch vor zehn Minuten gab es diese Ecke nicht, nun aber ist sie mit einem Mal bedeutsam. Denn das ist die Macht des Radsports hier: Er stellt die gewohnten Dinge auf den Kopf, macht ein trostloses, windiges Nirgendwo zur Partyzone. In langer Reihe sausen die Fahrer vorbei – kaum scharf zu sehen, so schnell sind sie. Und schon sind wir wieder auf der Jagd.

Noch eine Autofahrt über matschige Straßen und vorbei an Wohnmobilen. Der Löwe von Flandern flattert im Wind, und gerade noch sehen wir die Farben des Pelotons leuchten. Ein Helikopter kreist, sie sind im Ziel. Eine kurze, chaotische Zusammenkunft, und dann sind sie fort.

Oben auf der Kapelmuur wird nun schon seit Stunden gefeiert. Jeder Hobbyfahrer, der es bis nach oben schafft, um sich dazuzustellen, wird von einem Mann im Bürgermeister-Dress (vielleicht ist es der Bürgermeister?) mit einer Handglocke angekündigt. Alle jubeln, Teenager sitzen auf sich schnell leerenden Jupiler-Bierkästen und bewerfen Fahrer und Zuschauer weiter unten mit klebrigen Kellogg’s Honey Pops. Die House-Musik schwillt zum Crescendo an; kalt und gleißend kommt das Wetter von der Nordsee heran und trifft uns voll ins Gesicht. Ein paar Minuten hagelt es – richtiger Hagel, richtige Eiskugeln, die vom Himmel herunterprasseln. Es ist, als sei Gott ein Belgier und wolle mitfeiern. Es kommt der erste Fahrer, Dylan van Baarle von Jumbo-Visma, alleine, doch von der Meute verfolgt, während alle schreien und völliges Chaos herrscht.

Als wir am Ziel angekommen sind, berauscht vom Spektakel und unserer Hetzjagd, sind die Männer schon warm eingepackt von ihren Teambussen verschluckt worden. Die Frauen sind währenddessen über die Kapelmuur hinweg und nur ein paar Kilometer entfernt; angeführt von einer mutigen Solistin, der Belgierin Lotte Kopecky, die im schwindenden Tageslicht auf der langen Zielgerade ihrem Sieg entgegenhämmert. Betreuer stehen schon mit winzigen Dosen Cola und Fanta bereit, verteilen fürsorglich Jacken an die Fahrerinnen, die müde und mürrisch ins Ziel rollen, und so schließt sich der Kreis. Dann sind auch sie verschwunden, und die Menge zerstreut sich in der Dämmerung. Eine Stunde später scheint es in den Straßen des Zielortes Ninove, als sei nie etwas passiert. Aber doch nicht ganz.

Denn der Radsport ist nicht für die Entscheider und die großen Firmen da, nicht für die Sponsoren, die Tourismusbehörden oder die Scheichs – er ist für die Fans da. Und nirgendwo spürt man das stärker als hier. Sich in den dunklen Wintermonaten vorzustellen, dass die Rennsaison wieder beginnt, dass die Tage sonniger Anstiege und regenfeuchter Pflasterstraßen wiederkommen, erfordert echten Glauben. Jeder Pedaltritt auf der Trainingsrolle ist ein Akt des Glaubens. Doch nun scheint es sicher, dass der Frühling kommt. Auf einem Hügel oberhalb eines gepflasterten Steilstücks, über einem Rummelplatz und unter dem Gekreuzigten, zu plärrender Techno-Musik und mit Jupiler-Bier und Honey Pops sind unsere Gebete erhört worden.

Der Seele des Radrennsports geht es blendend. Für ein weiteres Jahr ist sie auferstanden.